Haare? Haare!
- Janine Brodbeck
- 8. Feb. 2020
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Dez. 2020
Über die Erfahrung, gewisse Körperhaare nicht mehr zu entfernen und die Erkenntnis, dass es nicht immer leicht ist, einfach das Natürliche zu tun bzw. zu lassen. Nein, es ist sogar ein richtig grosses Ding für mich!
Nie hätte ich gedacht, dass mich meine Körperhaare mal so beschäftigen würden. Seit ich ca. 15 Jahre alt bin, entfernte ich die Haare an den Unterschenkeln und in den Achselhöhlen regelmässig, die Schamhaare trug ich in verschiedenen "Frisuren", aber immer schön geformt. Obwohl ich vermutlich schon hunderte von Stunden mit der Entfernung meiner Haare zugebracht habe, war dies stets so selbstverständlich, dass ich mir nie Gedanken darum machte. Ich ging mit dem Trend, fiel nicht auf und musste mich demnach auch nicht exponieren.
Jetzt ist es genau umgekehrt. Seit meinen Ferien im Sommer in Portugal liess ich meine Achsel- und Beinhaare stehen und sie wuchsen rasch auf ihre volle Länge. Und damit setzte ein Prozess ein, über den ich staune.
Ich beschäftige mich oft damit und träume sogar von diesen Haaren. Da gibt es einen merkwürdigen Widerspruch; Dass diese Haare wachsen, ist völlig natürlich. Jede erwachsene Frau hat sie, unterschiedlich in der Farbe, unterschiedlich kräftig im Wuchs, unterschiedlich lang, aber jede hat sie. Und doch sind wir Frauen (ich glaube, da kann ich für die Mehrzahl westlicher Frauen sprechen) dermassen dahingehend sozialisiert, dass es nomaler zu sein scheint, sie zu entfernen, als es nicht zu tun. Haare unter den Armen zu tragen und dennoch sexy zu sein, scheint geradezu unmöglich, irgendwie ein unausgesprochenes "No-go".
Gerade zu Beginn gab es bei mir viel Scham mit diesem neuen Look und ich befürchtete, andere könnten mich als ungepflegt und schmutzig anschauen. Ich glaube, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht die Freude und die ständige Aufmunterung und Anerkennung meines Freundes gewesen wären, der sich an meinen Haaren wirklich ehrlich freut, hätte ich wohl rasch wieder zum Rasierer gegriffen. Gleichzeitig gab es auch diese Neugierde, wie das ist, einen Stolz, die Natürlichkeit zu tragen und damit einen neuen Weg zu gehen. Für mich und vielleicht für viele andere. Es nicht mehr hinzunehmen, dass wir Frauen uns den Gesetzen der Mode ungefragt (und sogar unbemerkt) fügen. Und da war eine Freude an meiner eigenen Wildheit. Ja, da ist es schon wieder, dieses Unglaubliche: Ich fühle mich total wild und ungewöhnlich, nur weil ich dem natürlichen Wuchs dieser dünnen Dinger nicht entgegenwirke.
Es war Sommer, und frau zeigte viel Haut, so dass ich mich nicht unbemerkt, erst mal nur für mich, daran gewöhnen konnte. Es wurde sehr bald sichtbar, dass es nicht nur ein Versäumnis von ein paar Tagen war, dass ich nicht nur grad keine Zeit gefunden hatte und daher die Häärchen etwas länger waren. Es wurde deutlich "die rasiert sich nicht mehr!" Die Reaktionen waren waren spannend, manchmal irritierend. Niemand sagte etwas, aber wenn ich im Gespräch gemütlich dasass, mich zurücklehnte und die Arme über den Kopf hob, wenn ich mir durch die Haare (auf dem Kopf) fuhr, mich kratzte, etc., da blieb der Blick des Gegenübers eine Sekunde länger haften unter meinen Armen. Sicherlich gab es in den meisten Fällen erst einmal eine Irritation. Die weiteren Gedanken und Gefühlsregungen mögen von Abscheu über Interesse, bis hin zu Bewunderung gehen, ich konnte die Blicke nicht ganz deuten und vermutlich war es auch unterschiedlich. Fest steht, ich selber war mir nicht schlüssig, was ich von meinen Haaren halten sollte. Ich selber war zuweilen verunsichert. Kann ich ein feminines kurzes Kleid tragen, wenn meine Beinhaare darunter spriessen? Sieht das nicht merkwürdig aus? Fast fühlte ich mich so urchig, als könnte ich nun nur noch barfuss gehen und müsste mir nun Rastas machen lassen. Kann ich mit diesen Achselhaaren in einem Trägershirt tanzen gehen? Finden die Leute das nicht eklig? Mein sonst doch recht gutes Selbstbewusstsein hatte sich für einige Zeit verkrochen, und ich musste mein Terrain neu erobern. Das erste Mal ging ich mit einem Shirt tanzen, das Ärmel hat. Ich traute mich noch nicht, mich zu zeigen, wie ich jetzt bin. Und ich hatte viel zu heiss damit.

Ein paar Tage später träumte ich: Ich spaziere mit einem Mann Hand in Hand. Plötzlich hebt er meinen Arm, schaut angeekelt auf meine Haare, rümpft die Nase. Völlig entspannt sehe ich ihn an und hebe die Schultern. Ich muss nichts dazu sagen, für mich ist völlig klar, dass das zu mir gehört und er gehen kann, wenn es ihm nicht passt. Dabei ist keine Wut oder Empörung, auch keine Scham. Nur die Klarheit, dass ich mich nicht anpassen werde und ich so total in Ordnung bin... Zum nächsten Tanzen ging ich ohne Ärmel, und nach erster Zurückhaltung hob ich bald auch frei und wild meine Arme. Nicht, ohne mir des Speziellen sehr bewusst zu bleiben. Aber es tat mir gut, mich in meinem So-Sein zu zeigen.
Von der Meinung, dass frau keine Haare zu tragen hat, bin ich aber noch lange nicht befreit. Immer wieder ertappe ich mich bei Gedanken und Handlungen die dies noch zeigen. Z.B. bei der Dankbarkeit, keinen allzu starken Haarwuchs zu haben. Meine Haare sind fein und blond, und das finde ich gut - hallo alte Konditionierung! Was wäre denn schlechter an dunklen, kräftigen Haaren? Würde ich mich auch trauen, sie wachsen zu lassen und zu zeigen, wenn sie schwarz wären und noch mehr auffallen würden? Auch mein "Umgang" mit den Schamhaaren zeigt; ich bin noch gefangen von den Schönheitsbildern unserer Gesellschaft. Es wäre genauso natürlich, sie einfach so wachsen zu lassen, wie sie eben wachsen. Aber nein, ich stutze sie, zupfe sie zurecht, so dass ja kein Häärchen neben der Bikinizone wuchert, sobald ich unter Leuten bin (in Costa Rica hatte ich zuletzt viel Bikinizeit). Es stört mich, wenn die Schamhäärchen ausbüxen. Ich behaupte, es gefalle mir nicht. Die Wahrheit ist, dass ich mich mindestens zur Hälfte einfach nicht traue, da unten Haar zu zeigen. Vielleicht wird sich das mit der Zeit ändern, vielleicht auch nie. Wichtig scheint mir die Erkenntnis, dass unsere gesellschaftlichen Bilder in mir wirken, viel stärker, als ich das gedacht hätte. Und dass es nicht leicht ist, sich davon zu lösen.
Starken Haarwuchs im Gesicht habe ich zum Glück nicht, nur ein bisschen, so dass ich es gerade noch akzeptieren kann. Seht ihr? Schon wieder diese Bewertung! Ich bin wirklich alles andere als frei davon!

Wo erkennt ihr an euch alte Bilder, wie frau und mann zu sein haben, die vielleicht längst der Vergangenheit angehören könnten/dürften? Wie habt ihr es mit den Haaren? An euch selbst, an anderen? An eurem Partner/eurer Partnerin? Was gefällt und was gehört einfach zu dem, was wir als "normal" anschauen?
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